Zur Geschichte der Ernährungspsychologie in Göttingen
Die Geschichte des Fachs Ernährungspsychologie an der Göttinger Universität ist unmittelbar mit dem Nestor dieser neuen Wissenschaft in Deutschland, Professor Dr. Volker Pudel (1944 - 2009), verbunden. Einen Nachruf auf Volker Pudel finden Sie hier.
Nachfolgend finden Sie eine Zusammenfassung der wichtigsten Forschungsarbeiten.
Gründung der Ernährungspsychologischen Forschungsstelle
Im Jahr 1978 wurde an der Göttinger Universitätsklinik die „Ernährungspsychologische Forschungsstelle“ im Zentrum Psychologische Medizin gegründet, die von Volker Pudel bis zu seiner Emeritierung im Jahr 2007 geleitet wurde. Pudel seinerseits war ein Schüler von Professor Joachim-Ernst Meyer, der ihm Ende der 60er Jahre die wissenschaftliche Beschäftigung mit dem menschlichen Essverhalten im Schnittpunkt von Psychologie, Ernährungswissenschaft und Medizin für seine Diplomarbeit empfahl. Diese Interdisziplinarität wurde in der Ernährungspsychologischen Forschungsstelle institutionalisiert. Sie vermochte fortan, viele neue Blickwinkel auf das menschliche Essverhalten zu eröffnen.
In der Monographie „Zur Psychogenese und Therapie der Adipositas“ wurde 1976 erstmals das damals verfügbare Wissen über die psychologischen Aspekte der Adipositas zusammengefasst. Gleichzeitig stellte diese Veröffentlichung die Habilitationsschrift von Pudel dar. Sie war eine Dokumentation von drei Konzepten, die das wissenschaftliche Denken über die Adipositas für mehr als ein Jahrzehnt geprägt haben und an deren Entwicklung und Weiterentwicklung Volker Pudel und sein Team in der Forschungsstelle in der Folgezeit maßgeblich beteiligt waren: der Externalität des Essverhaltens, einer Sättigungsstörung bei Menschen mit Adipositas und das Konstrukt der latenten Adipositas.
Außenreize determinieren das Essverhalten
Das erste Konzept war das Konzept der Außenreizabhängigkeit oder Externalität des Essverhaltens der Adipösen. Ursprünglich war dieses Konzept von Stanley Schachter in den Vereinigten Staaten entwickelt worden, aber es war das Verdienst von Pudel und Kollegen, dieses Konzept in Deutschland bekannt gemacht und vor allem durch experimentelle Arbeiten weiter entwickelt und untermauert zu haben. In Kürze zusammengefasst besagte dieses Konzept, dass das Essverhalten von adipösen Menschen wesentlich stärker durch äußere Reize, wie den Anblick oder den Geruch von leckerem Essen bestimmt wird als von inneren Reizen, wie der Wahrnehmung von Hunger oder Sättigung. Im Gegensatz dazu werde das Essverhalten von normalgewichtigen Menschen wesentlich stärker von Innenreizen als von Außenreizen bestimmt. Zwei inzwischen weithin bekannte experimentelle Anordnungen bestätigten das Konzept.
- Der Trickteller: Normalerweise leert sich der Teller, wenn wir essen, und der leere Teller signalisiert uns: du hast aufgegessen
und kannst aufhören zu essen. Doch was passiert, wenn sich der Teller beim Essen nicht leert? Beim Trickteller-Experiment löffelten Versuchspersonen eine Suppe, doch während des Essens floss durch ein Loch im Tellerboden immer neue Suppe nach, so dass der Teller nie leer wurde. Und in der Tat, wenn der Anblick des leeren Tellers als Stoppsignal ausbleibt, essen die Versuchspersonen zwischen 50 und 80 Prozent mehr, als wenn dieses Stoppsignal vorhanden ist.
Abb.: Trickteller (Foto: Ellrott)
- Der Food-Dispenser. Hierbei sitzt die Versuchsperson vor einem Glas mit einer Trinkflüssigkeit und trinkt durch einen Schlauch
– vermeintlich – aus dem Glas. In Wirklichkeit trinkt sie jedoch aus einem unsichtbaren Vorratsbehälter im Nebenraum. Der Flüssigkeitspegel im Glas, das die Versuchsperson vor sich sieht, senkt sich jedoch in einem einstellbaren Verhältnis zum tatsächlich getrunkenen ab, entweder genauso viel wie getrunken wurde, oder zum Beispiel doppelt so viel oder auch nur halb so viel. Auf diese Art und Weise kann der innere Reiz „Magenfüllung“ vom äußeren Reiz „Anblick“ des Schauglases entkoppelt werden und untersucht werden, ob sich die Versuchspersonen eher von ihrem Auge oder von ihrem Magen in der Nahrungs- menge beeinflussen lassen. In all diesen Versuchen zeigte sich, dass Übergewichtige und Adipöse in ihrem Essverhalten in der Tat stärker von äußeren als von inneren Reizen gesteuert werden.
Unterschiede in der Essgeschwindigkeit
Das zweite wissenschaftliche Konzept jener Zeit war das Vorliegen einer „Sättigungsstörung“ bei Menschen mit Adipositas. Es zeigte sich in Experimenten, dass normalgewichtige Versuchspersonen zu Beginn einer Mahlzeit schneller essen und zum Ende der Mahlzeit die Essgeschwindigkeit absinkt. Bei Probanden mit Adipositas war die Essgeschwindigkeit allerdings über die ganze Mahlzeit hinweg konstant.
Latente Adipositas und gezügeltes Essverhalten
Das dritte zentrale Konzept aus der Anfangszeit der Ernährungspsychologischen Forschungsstelle war das Konzept der „latenten Adipositas“. In Studien konnten immer wieder normalgewichtige Versuchspersonen identifiziert werden, die sich genauso verhielten wie die übergewichtigen und adipösen Probanden. Sie waren genauso von Außenreizen abhängig oder sie zeigten genau die gleichen linearen Sättigungskurven. Die nähere Beschäftigung mit diesem Phänomen führte zu der Erkenntnis, dass diese auffälligen normalgewichtigen Personen eigentlich ständig versuchen, ihre Nahrungsaufnahme einzuschränken, um abzunehmen oder um eine Gewichtszunahme zu verhindern. Also, so die Schlussfolgerung von Pudel und Kollegen, sind diese Versuchs- personen von ihrem Verhalten her eigentlich adipös, aber durch ihre Kontrolle können sie verhindern, dass die Adipositas manifest wird. Sie sind also lediglich „latent“ adipös.
Zur gleichen Zeit kristallisierte Peter Herman in Nordamerika das Konzept des „restrained eating“, des „gezügelten Essverhaltens“, heraus. Das „restrained eating“ nach Herman und die „latente Adipositas“ nach Pudel sind nahezu identisch. Später wurden von Volker Pudel und seinem Mitarbeiter Joachim Westenhöfer erstmals zwei unterschiedliche Spielarten des gezügelten Ess- verhaltens beschrieben, „rigide Kontrolle“ und „flexible Kontrolle“, da sich „restrained eating“ nicht als homogenes Konstrukt entpuppte. Diese Entdeckung ist bis in die heute Zeit von hoher praktischer Relevanz, da eine Kontrolle des Essverhaltens ganz ohne Verhaltensspielräume (= rigide Kontrolle) fast gesetzmäßig zu Essanfällen führt, die für die in neuerer Zeit beschriebenen Essstörungen „Binge Eating Disorder“ und ggf. auch „Food Addiction“ (suchtartiges Essverhalten) charakteristisch sind. Während das gezügelte Essen in seiner rigiden Ausprägung als Risikofaktor für die Entwicklung von Essstörungen belegt werden konnte, erwies sich die flexible Form (= Kontrolle mit Verhaltensspielräumen) des gezügelten Essen als protektiver Faktor, der auch zu einer langfristig erfolgreichen Gewichtskontrolle von Menschen mit Übergewicht bzw. Adipositas beiträgt.
Essstörungen
Ende der siebziger und Anfang der achtziger Jahre wurde mit Bulimia nervosa, bzw. „Ess-Brech-Sucht“, bereits eine andere Essstörung neu beschrieben: Die ersten Definitionen erfolgten 1978 von Boskind-Lohdahl und 1979 von Gerald Russell. Volker Pudel und seine Arbeitsgruppe in der Ernährungspsychologischen Forschungsstelle griffen dieses Phänomen zu Beginn der achtziger Jahre auf und führten damals die erste größere Studie zur Bulimia nervosa in Deutschland durch. In einer Frauen- zeitschrift wurden die zentralen Symptome dieser schweren Essstörung geschildert und betroffene Frauen gebeten, sich zu melden und für eine Studie zur Verfügung zu stellen. Auf Anhieb meldeten sich damals über 500 Betroffene, die zum Teil seit mehreren Jahren an dieser Essstörung litten, die aber zum Teil selbst nicht wussten, dass dies eine ernstzunehmende Erkrankung war.
Durch diese Arbeiten zur Bulimia nervosa hat die Ernährungspsychologische Forschungsstelle unter Volker Pudel wesentlich dazu beigetragen, dass das Verständnis von dieser Essstörung wesentlich erweitert werden konnte. Es zeigte sich rasch, dass das gezügelte Essverhalten, also die Tendenz die Nahrungsaufnahme einzuschränken, um abzunehmen oder um nicht zuzunehmen einer der zentralen Risikofaktoren für das Entstehen dieser Essstörung ist (s.o.). Diese und andere Erkenntnisse führten rasch dazu, dass sich das Verständnis des gezügelten Essverhaltens und damit der latenten Adipositas wandelte. In der ersten Auflage des von Volker Pudel gemeinsam mit seinem Kollegen Joachim Westenhöfer verfassten Standardwerks der Ernährungspsychologie „Ernährungspsychologie. Eine Einführung (Hogrefe)“ formulierte Volker Pudel daher:
„Die als typisch beschriebene Disposition der Adipösen ist nicht die Ursache für ihre Übergewichtigkeit, sondern sie folgt als Resultat auf eine Beschränkung der Nahrungsaufnahme. “
(S. 110)
Durch diese Arbeiten wurden die Forschungsfelder Essstörungen und Adipositas in einer ganz neuen Weise theoretisch und empirisch verknüpft.
Forschung zum Essverhalten der Normalbevölkerung
Nicht nur die Forschungsfelder Adipositas und Essstörungen sind mit der Ernährungspsychologischen Forschungsstelle der Universitätsmedizin Göttingen besetzt. Seit Ende der siebziger Jahre beschäftigte man sich dort auch intensiv mit den verschiedensten Aspekten des „normalen Essverhaltens“, mit der Epidemiologie des Essverhaltens, mit Ernährungs- einstellungen und Ernährungswissen. Die Forschungsergebnisse dieses Arbeitszweiges wurden erstmals im Ernährungsbericht 1980 zusammenfassend dargestellt, es folgen analoge Aspekte hinsichtlich des Essverhaltens von Kindern und Jugendlichen im Ernährungsbericht 1984. Seit 1980 bis zum Ernährungsbericht 2000 waren die von Pudel und Kollegen verantworteten Kapitel zum Ess- und Ernährungsverhalten der deutschen Bevölkerung eine regelmäßiger Bestandteil des Ernährungsberichts. Für den Ernährungsbericht 2000 beforschte Volker Pudel gemeinsam mit seinem Mitarbeiter Thomas Ellrott in einer repräsentativen Erhebung das Essverhalten und den Ernährungszustand von Kindern und Jugendlichen in Deutschland.
Makronährstoffe und Gewichtsregulation
Ab Mitte der 90er Jahre wurde die Bedeutung der Makronährstoffe für die Appetit- und Sättigungsregulation sowie für die Entwicklung des Körpergewichts ein wichtiger neuer Schwerpunkt der Arbeit in der Forschungsstelle. Zusammen mit Thomas Ellrott konnte Volker Pudel in mehreren randomisierten Studien zeigen, dass die alleinige Einschränkung der Fettzufuhr – ad libitum oder fixiert – eine wirksame Strategie zu einer moderaten Reduktion des Körpergewichts aber auch zur Stabilisierung eines reduzierten Körpergewichts darstellt. Diese Forschungsergebnisse wurden in jüngerer Zeit anhand einer Kohorte von erfolgreichen Abnehmern ohne nachfolgenden JoJo-Effekt (National Weight Control Registry) in den USA untermauert.
Ernährungsberatung per Computer
Parallel wurde in der Ernährungspsychologischen Forschungsstelle der Universitätsmedizin Göttingen schon Ende der siebziger und Anfang der achtziger Jahre begonnen, die damals erstmals verfügbaren Computer einzusetzen, um – wie heute zu sagen üblich – computergestützte bzw. computergenerierte individualisierte Ernährungsberatung zu realisieren. Zunächst entstanden Programme, die im Wesentlichen automatisierte Auswertungen und Analysen von Ernährungstagebüchern und Fragebögen zum Essverhalten ermöglichten. Ein erster Höhepunkt dieser Arbeiten war die Zusammenarbeit mit einem großen Hamburger Frauenmagazin, die dazu führte, dass über 40.000 Leserinnen einen Fragebogen zu Ihrem Essverhalten und zu ihren Einstellungen und Motivationen ausfüllten. Der Fragebogen wurde vollautomatisch ausgewertet und die Teilnehmerinnen erhielten eine Rückmeldung und Analyse in Form eines individualisierten Beratungsbriefs.
Dieser Ansatz und diese Technologie wurden dann weiterentwickelt und mündeten 1986 in die Fertigstellung der „Vier-Jahreszeiten-Kur“. Die Vier-Jahreszeiten-Kur war ein rechnergestütztes Beratungs- und Trainingsprogramm zur Gewichtsreduktion, aber auch für gesunde Ernährung allgemein. Der Kern des Programms bestand aus einem Feedback-System, in dem die Teilnehmer etwa alle zwei Monate einen Fragebogen oder ein Ernährungsprotokoll ausfüllten. Diese wurde per Post eingeschickt und die Teilnehmer erhielten wiederum per Post einen individualisierten Beratungsbrief mit Rückmeldungen, Analysen und vor allem Anregungen zur Veränderung ihres Ess- und Ernährungsverhaltens. Die Vier-Jahreszeiten-Kur wurde zwischen 1986 und 1996 in Zusammenarbeit mit der AOK angeboten. In dieser Zeit haben sich über eine halbe Million Menschen an diesem Programm beteiligt. Damit ist die Vier-Jahreszeiten-Kur zweifelsohne der Wegbereiter für die Einsetzbarkeit und Verfügbarkeit individueller Beratungsleistung auf einer Massenbasis in einem Public Health-Maßstab. 1996 wurde das Programm aktualisiert und in „Abnehmen mit Genuss“ umbenannt. Seit 2013 gibt es „Abnehmen mit Genuss“ auch als reines Online-Programm zur Nutzung über Smartphone und Computer. Derartige Angebote ergänzen heute die vor-Ort-Angebote und sind vor allem für diejenigen eine Alternative, die vor-Ort-Präventions-angebote nicht nutzen können oder wollen.
Multimediale Gesundheitsaktionen in Baden-Württemberg und Sachsen
Das Ziel Breitenwirkung im Public Health-Maßstab hat ebenso die parallel von Pudel und Mitarbeitern entwickelte vor-Ort-Präventionsaktion „Pfundskur“ erreicht, die erstmals 1992 in Baden-Württemberg zusammen mit der AOK und dem öffentlich-rechtlichen Rundfunk realisiert wurde. Ein Kennzeichen der Pfundskur war die Zusammenarbeit mit vielen Akteuren und Beteiligten und vor allem mit den Medien. Hierdurch gelang es, zentrale Themen wie richtige Lebensmittelauswahl und Gewichtsreduktion eine Zeit lang universal präsent zu machen und dadurch eine Vielzahl von Menschen zur Beteiligung und damit letztlich zur Änderung ihres Ess- und Bewegungsverhaltens zu motivieren. Multimediale vor-Ort-Präventionsaktionen fanden in den Jahren 1992, 1996, 1999, 2003 und 2006 („PfundsFit“) in Baden-Württemberg, 2001 und 2005 auch in Sachsen statt. Seit 1999 wurde Volker Pudel dabei durch seinen Mitarbeiter Thomas Ellrott unterstützt.
Gründung des Instituts für Ernährungspsychologie an der Georg-August-Universität Göttingen
Im Jahr 2007 wurde Volker Pudel emeritiert. Am 31.3.2007 fand ihm zu Ehren ein großes Abschiedssymposium an der Göttinger Universitätsmedizin statt. Thomas Ellrott, der seit 1995 mit Volker Pudel in der Ernährungspsychologischen Forschungsstelle zusammengearbeitet hatte, wurde zu seinem Nachfolger bestellt.
Im selben Jahr wurde von der Universitätsmedizin Göttingen beschlossen, die Ernährungspsychologische Forschungsstelle als „Institut für Ernährungspsychologie an der Georg-August-Universität Göttingen/Universitätsmedizin“ auszugründen und die erfolgreiche interdisziplinäre Arbeit fortzuführen. In diesem Zuge fand ein Umzug in die Räumlichkeiten der alten Universitäts-Kinderklink in der Humboldtallee 32 statt.
Meilensteine der Geschichte der Ernährungspsychiologie an der Göttinger Universität (1978-2007)
1978 – Gründung der Ernährungspsychologischen Forschungsstelle im Zentrum Psychologische Medizin der Universitätsklinik Göttingen, Bestellung von Volker Pudel zum Leiter der Forschungsstelle.
1986 – Erste computergestützte Ernährungsberatung in Deutschland (Vier-Jahreszeiten-Kur)
1992 – Erste multimediale landesweite Gesundheitsaktion in Baden-Württemberg (PfundsKur)
2001 – Auszeichnung von Volker Pudel mit dem Dr. Rainer Wild-Preis
2003 – Auszeichnung von Volker Pudel mit dem Therapiepreis der Deutschen Adipositas-Gesellschaft (DAG)
2007 – Emeritierung von Volker Pudel und Bestellung von Thomas Ellrott zum neuen Leiter
2007 –Gründung des Instituts für Ernährungspsychologie an der Georg-August-Universität Göttingen/Universitätsmedizin als interdisziplinäres An-Institut für Forschung und Lehre
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